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Viewpoint macro: Bitcoin touches one million $US?


„Ein jeder nennt die Gedanken klar, die den gleichen Grad der Konfusion haben wie seine eigenen.“ Marcel Proust, 1871-1922, Schriftsteller

Das älteste Bild der Welt mit Bezug zur Spekulation. Gegenstand ist das Tulpenzwiebel-Spekulationsfieber in Amsterdam. Entstanden 1640, zeigt das allegorische Gemälde von Hendrik Pot die Blumengöttin Flora und viele Anspielungen auf die Spekulationsmanie in den Details. Bild: Frans Hals Museum

Selbst am ETF-Markt, bisher quasi ein Synonym für passives Investment, ist das Jahr 2020 auch davon gekennzeichnet, dass aktive Investmentstrategien stark unter den neu aufgelegten ETFs vertreten sind. Die Zeiten von „steigt Butter, steigt auch Käse“ sind mal wieder vorbei – jetzt kommt es darauf an, sich dem Herdeninstinkt zu entziehen und das analytische Gehirn wieder einzuschalten.

Nach einer Betrachtungsweise ist das Börsengeschehen nur von zwei Faktoren bestimmt: Liquidität und Psychologie. Werden oder sind beide Faktoren negativ, wie 2008/2009, kommt es zu einer scharfen Baisse. Wird, wie danach, die Liquiditätsschleuse weit und immer weiter geöffnet, so folgt die Stimmung der Investoren den steigenden Kursen – bis die Euphorie dann letztlich, wie 2019/2020, ein Eigenleben entwickelt. Nichts ist mehr geeignet als eine Phase des spekulativen Überschwangs, um neue Investoren anzulocken, denn das Schlimmste für die meisten Zeitgenossen ist es doch, nicht dabei zu sein, während andere an der Börse leichtes und schnelles Geld verdienen.

Vom Optimismus zum Überschwang

Es ist genau diese letzte Phase im Börsenzyklus, die, aus Anlegersicht, die mit Abstand grössten Risiken birgt. Gerade, weil die Stimmung schon so lange so überschäumend ist, herrscht Unbekümmertheit vor, und der Kapitalmarkt treibt giftige Blüten der Überspekulation, die am Ende immer in Tränen enden. Fehlallokationen auf der Basis der Annahme, dass es immer so weitergeht, treiben die Kurse oder Preise der Spekulationsobjekte. Regelmässig – angefangen bei der Tulpenzwiebel-Hausse in Amsterdam bis hin zu den Gewinn- und Kurserwartungen für die Big-Tech-Unternehmen heute – wird bis in den Himmel extrapoliert, bis dann am Ende doch die Erkenntnis reift, dass eine Tulpenzwiebel eben doch nicht den Gegenwert ganzer Patrizierhäuser repräsentiert oder eben eines der FANG-Unternehmen den Gegenwert ganzer Volkswirtschaften.

Ungesunde Relationen als Warnsignal

Es schadet nicht, sich die Relationen immer wieder vor Augen zu führen und dann eben auch zu anderen – rationalen – Schlussfolgerungen zu gelangen. Beispielsweise liegt die Börsenkapitalisierung der Schweiz nicht nur auf einer Höhe mit einem der höchstbewerteten FANG-Unternehmen, sondern auch mit den sehr viel grösseren Volkswirtschaften von Deutschland und Frankreich. Und das nicht ohne Grund. So gibt es viele Europa- oder Branchen-ETFs, in denen die Schweiz dank Nestlé, Novartis und Roche schwergewichtig vertreten ist, doch die beiden grösseren Nachbarländer haben eben keine vergleichbar bedeutenden Branchenvertreter hervorgebracht. Im gegebenen wirtschaftlichen Umfeld dürften die defensiven Aktien der Weltmarktführer aus der Pharma- und Nahrungsmittel-Industrie wohl auch weiterhin besser performen als die Vertreter von Industrie, Grundstoffen, Automobil etc., zumindest, solange die notwendigen Kapazitätsanpassungen nicht vollzogen sind.

ETFs – ein Faktor für die Börse

ETFs sind inzwischen nicht mehr aus dem Markt wegzudenken. Sie tragen durch ihre Dispositionen durchschnittlich zu 30% zu den täglichen Börsenumsätzen bei. Während der chaotischen Tage im März und April lag der Anteil sogar bei über 40%. Erstmals in der noch relativ kurzen Geschichte der ETF-Industrie konnte in dieser Phase zeitweilig die Parität von Kurs und Nettoinventarwert (NAV) nicht gehalten werden. Was könnte wohl passieren, wenn, wie in den dunkelsten Stunden der Finanzkrise 2008/2009, selbst bei Standardwerten keine Aktienkurse mehr gestellt werden und unlimitierte Verkäufe von Aktien, Fondsanteilen und ETFs auf einen Markt ohne Käufer treffen?

Höchste Verschuldungsquote der USA seit 1945

Auch andere Relationen erscheinen zumindest fragwürdig. Kaum jemand stellt die Frage nach der exponentiell steigenden globalen Verschuldung. Allein das US-Staatsdefizit nahm im bis September reichenden jüngsten Fiskaljahr um 3.1 Bio. USD zu. Im davor liegenden Fiskaljahr lag das Defizit bei 1 Bio. USD. Aktueller Stand: 21 Bio. USD. Das aktuelle Defizit in Höhe von rund 15,2% des US-BIP ist das höchste seit dem letzten Weltkriegsjahr 1945! Erst die genaue Betrachtung zeigt, wie weit Einnahmen und Ausgaben auseinanderklaffen. 3.42 Bio. USD an Einnahmen stehen 6.55 Bio. USD an Ausgaben gegenüber, darunter allein 1.7 Bio. USD für den CARES Act im Rahmen der Corona-Erleichterungen. Ein wesentlicher Grund für die mangelhaften Steuereinnahmen sind die grosszügigen Steuergeschenke der Vorjahre an Unternehmen und Superreiche. So liegt der Anteil der Unternehmenssteuern an den Staatseinnahmen bei gerade 212 Mrd. USD.

Vermögenswerte mit oder ohne Zahlungsversprechen?

In der globalen Betrachtung hat die Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Privaten zum Ende des ersten Quartals 2020 insgesamt geschätzte 258 Bio. USD betragen. Inzwischen dürfte die 300 Bio. USD-Marke bereits in Sicht sein. Die grosse Frage am Ende eines jeden solchen Kreditbooms ist, wieviel davon wird zurückbezahlt, und welcher Anteil muss abgeschrieben werden? Im Verhältnis zum Volumen der Verschuldung ist Gold als einziges traditionelles Anlagemedium ohne dahinterstehendem Zahlungsversprechen mit ca. 9 Bio. USD relativ unterbewertet, zumindest mit Blick auf eine bevorstehende Pleitewelle. Selbst eine geringe Umschichtung aus anderen Anlageklassen in den Goldmarkt wird einen deutlichen Effekt auf die Preisentwicklung haben. So gesehen erscheinen die mitunter bizarr anmutenden Preisziele mancher Goldpreis-Prognosen – 10’000 USD je Feinunze oder mehr – nicht mehr so ganz aus der Welt.

Entwicklung des Goldpreises per Unze in CHF in den letzten fünf Jahren. Quelle: finanzen.ch
Alternative Krypto-Assets

Viele Vertreter der jüngeren Generation haben keinen Bezug zum Edelmetall als Anlagemedium. Der Aktienmarkt erscheint ihnen dagegen oft als intransparent, schwer nachvollziehbar und kompliziert. Doch sehr verbreitet ist Bitcoin als Trading-Objekt und alternatives Anlagemedium. Kryptowährungen erscheinen gegenüber den vorgenannten Anlageformen zukunftsträchtig, zeitgemäss und unkompliziert. Mag es auch Rückschläge geben, so werden diese als Einstiegsgelegenheiten in einem langfristig nach oben gerichteten Trend gesehen. Auch bei Bitcoin werden unvorstellbar scheinende Preisziele formuliert. Das höchste bekannte Preisziel liegt bei 1 Mio. USD, also fast eine Verachzigfachung vom gegenwärtigen Preisniveau. Die in Krypto-Kreisen bekannten Winkelvoss-Zwillinge sagten schon vor längerer Zeit: „Wer den Bitcoin nicht bei 1 Mio. USD sehen kann, dem fehlt es an Vorstellungskraft“.

Institutionelle Investoren bringen sich in Position

War die Krypto-Welt vor einigen Jahren noch weitgehend Neuland, unreguliert und von zahlreichen Skandalen geprägt, so ist die Industrie mittlerweile an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Es sind nicht mehr nur ausgesprochene Krypto-Fans, die auf dubiosen Plattformen traden, sondern zwischenzeitlich gibt es für den Börsenhandel zugelassene Investmentvehikel, die Transparenz ist gewachsen, und die Akzeptanz wächst. Nicht nur bei Privatanlegern, sondern inzwischen auch bei institutionellen Anlegern. Die ersten sind, wie zu erwarten, die Hedge Funds. Doch es wird erfahrungsgemäss nicht lange dauern, bis auch Stiftungen, Pensionskassen, Versicherungen und andere Institutionen folgen.

Relationen und Berechnungen

Ähnlich wie die Quantität von Gold ist die Anzahl der Bitcoins limitiert. Doch das Marktvolumen beim Bitcoin beträgt lediglich 207 Mrd. USD! Es wird nie mehr als 21 Mio. Bitcoins geben, gegenwärtig sind 18.5 Mio. Bitcoins ausstehend. Wenn also, im Wall Street Jargon, der „wall of money“ angesichts der hohen Bewertungen an den Aktienmärkten, bei Immobilien und eigentlich in fast allen Anlageklassen dann in grösserem Ausmass in Gold und/oder Bitcoin fliesst, können die Preise auch in stratosphärische Höhen katapultiert werden. Ein Rechenbeispiel zeigt, dass das Marktvolumen von Bitcoin selbst bei einem Preis von 1 Mio. USD und unter der Annahme, dass die finale Anzahl von 21 Mio. Bitcoins erreicht ist, lediglich bei 21 Bio. USD liegen würde – das Äquivalent zur aktuellen US-Staatsverschuldung, oder 8% des heute ausstehenden globalen Kreditvolumens, oder zwei Drittel der aktuellen Kapitalisierung der US-Aktienbörsen NYSE und Nasdaq.

Wahrscheinlichkeiten

Das globale Wirtschaftswachstum liegt annualisiert bei gut -6%. Viele Unternehmen sind mangels Cashflows nicht überlebensfähig. Gewaltige Überkapazitäten drücken auf die Preise, die sich bereits deflationär entwickeln. Banken und andere Kreditgeber werden beachtliche Abschreibungen vorzunehmen haben, wenn die bislang aufgeschobene Phase der Insolvenzen kommt. Doch an den Aktienbörsen werden Rekorde gefeiert, was trotz tiefer Zinsen nicht zusammenpassen will. Immerhin sind die Vergleiche mit 1929 und 1945 durch harte Zahlen untermauert. Die grösste Depression in hundert Jahren, die mit den höchsten Staatsdefiziten seit dem letzten Weltkrieg bislang überspielt wird, kann nicht schmerzlos vorübergehen, sondern zeitigt umfangreiche Konsequenzen, die teilweise unter der Wahrnehmungsschwelle ablaufen.

Struktureller Wandel

Dazu zählen der Abbau von Freiheiten und Grundrechten sowie die Einschränkung des Individuums, aber auch die Konsolidierung ganzer Industrien, die Machtkonzentration und die Beschleunigung von Digitalisierung, Automatisierung und Roboterisierung. Auch die Polarisierung in der Politik, der Nationalismus und die zunehmenden internen und externen Konflikte sind Symptome am Ende eines globalen Super-Cycle, der nun vom nächsten abgelöst wird.

Geringes Vertrauen in Währungspolitik und Finanzindustrie

Teil dieses strukturellen Wandels ist ein breitgestreutes Misstrauen gegenüber staatlichen Akteuren und der Finanzindustrie. Das mag an der endlosen Reihe von Skandalen, Korruptionsaffären und der Manipulation nahezu aller Märkte sowie persönlichen Verfehlungen in Serie liegen. Es ist durchaus nachzuvollziehen, dass 25-Jährige kein Vertrauen in die Währungspolitik, traditionelle Vermögenswerte und die Repräsentanten der etablierten Finanzdienstleister haben. Gerade weil das Vertrauen des Establishments leichtfertig verspielt wurde, muss Bitcoin als unbelastet und nicht manipulierbar erscheinen. Eine frische Asset-Klasse für eine frische Generation.

Entwicklung des Bitcoins in den letzten fünf Jahren in USD. Quelle: finanzen.ch
Neue Hochs für Bitcoin in Sicht

Hedge Funds sind immer die ersten, wenn es darum geht, neue Trends aufzuspüren und sich zu positionieren, bevor der grosse Run einsetzt. Das war bei Emerging Markets, Biotech, Infotech, Space Tech, AI und weiteren späteren grossen Trends der Fall. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es bei Bitcoin als „the next big thing“ genauso sein wird. Pioniergewinne für Pionierinvestoren! Die Konsolidierung der Preise scheint beim Bitcoin abgeschlossen. Gerade wurde das Zwischenhoch vom Juni 2019 bei 12’200 USD überboten. Der Ausbruch könnte, wie in der Vergangenheit, schnell in neue Höhen führen. Der nächste Meilenstein ist das historische Hoch aus 2018 bei nahe 20’000 USD.

Um die verpasste Chance später nicht zu bedauern, empfiehlt es sich daher, Prousts Spruch zu beherzigen: „Worüber wir nicht ernsthaft nachgedacht haben, das vergessen wir bald.“

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Author: Lisa Ware

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